Digital am Limit

Push-Nachrichten überfluten unseren Alltag.
Was machen sie mit uns und wie können wir
dem entgegenwirken?

Dein Wecker reißt dich wie jeden Morgen aus dem Schlaf. Du stellst ihn aus, reibst dir kurz die Augen und... greifst instinktiv zu deinem Smartphone. Routiniert wischst du mit deinem Daumen über das Display und beendest den Flugmodus. 

Pling! Pling! Pling! Drei Push-Nachrichten nacheinander. Wie wird das Wetter heute? Was sind die wichtigsten News der vergangenen Nacht? Auch im Messenger warten schon wieder neue Nachrichten auf dich. Und das alles, bevor du überhaupt einen ruhigen Gedanken fassen konntest.

„Informationsüberflutung“ oder „Information Overload“ nennen das Expert*innen aus der Forschung und der Wissenschaft. Wir leben in einer digitalen Welt, Informationen sind unser Alltag. Jeden Tag prasseln unzählige davon auf uns ein. Raum für Langeweile, fürs Gedanken schweifen lassen, für selbstständiges Denken bleibt da wenig.

Dabei führt derart viel Information keinesfalls zu mehr Wissen.
„99 Prozent dessen, was wir am Tag aufnehmen, ist am Abend wieder weg“, weiß Hirnforscher Ernst Pöppel. Er ist überzeugt davon, dass das Gehirn einen Großteil der Informationen vergessen muss, weil es die tägliche Masse nicht verarbeiten kann. Im US-Magazin „The Atlantic“ geht Wirtschaftsjournalist Nicolas Carr sogar noch weiter: Mit seinem Artikel „Macht Google uns dumm“ erklärt er, dass die Masse an medial verfügbaren Informationen uns daran hindert, das Gelesene wirklich zu verstehen.

Die versteckte Botschaft


Und trotzdem bevorzugen wir Push-Nachrichten gegenüber aktiven Suchanfragen. Laut eines aktuellen Benchmarks stimmen Android-Nutzer*innen durchschnittlich zu 81 Prozent dem Erhalt von Push-Benachrichtigungen zu. Bei iOS-Nutzer*innen sind es 51 Prozent. Und das, obwohl wir die meisten Pushes scheinbar gar nicht brauchen. Denn die Reaktionsrate bei Push-Benachrichtigungen ist mit unter fünf Prozent verschwindend gering.

Das wissen auch die Unternehmen, die hinter den automatisierten Push-Nachrichten stecken. Ihr Ziel ist simpel: Sie wollen dich motivieren, etwas zu tun, das du ohne Push-Benachrichtigung vielleicht niemals getan hättest. Im Optimalfall hast du danach das Gefühl, völlig autonom gehandelt zu haben. Fühlst du dich schon ertappt?

Falls nein, könnte das daran liegen, dass ein Großteil der Benachrichtigungen aus Marketingsicht nicht optimal gestaltet ist. Scott Belsky, Unternehmer und Investor, kritisierte bereits 2017, dass Push-Benachrichtigungen eine aufdringliche, beliebige und falsch eingesetzte Methode seien, um die Aufmerksamkeit der Nutzer*innen zu erlangen. Anstatt Menschen zu manipulieren, sollten Push-Nachrichten laut Belsky das Leben ihres Publikums verbessern.

Positiv wahrgenommene Pushes haben demnach das Potenzial, ein wichtiges Interaktionsmittel zwischen App und Nutzer*in zu sein. Um diese Möglichkeiten bestmöglich für Marketingzwecke zu nutzen, gibt es zahlreiche Richtlinien und Tipps für effektive Push-Benachrichtigungen.

Auf Basis psychologischer Erkenntnisse sollen diese Techniken deine Motivation verstärken und deine Bedürfnisse befriedigen. Du fragst dich, wie das funktionieren soll? Ein Überblick:

Die Sucht nach dem kurzen Glück


Kein Wunder, dass wir im Grunde scharf darauf sind, ständig Push-Nachrichten zu erhalten – und das nicht nur wegen der ausgeklügelten Strategien der App-Entwickler*innen, sondern auch wegen der Prozesse, die dabei in unserem Gehirn ablaufen. 

Push-Nachrichten erzeugen in unserem Gehirn jedes Mal ein kurzes Glücksgefühl und sorgen dafür, dass wir ständig mehr davon wollen. Dir fällt es sicherlich auch nicht so leicht, das Smartphone mal zur Seite zu legen. Die entscheidende Rolle spielt dabei ein Botenstoff im Gehirn: Dopamin.

“Dopamin kommt ins Spiel, sobald neue Ereignisse von Bedeutung anstehen, die sich von dem, was das Gehirn im Voraus errechnet hat, positiv abheben: Überraschendes erhält sofort einen hohen Rang auf der Prioritätenliste.“
Martin Korte, Neurowissenschaftler

Der Neurowissenschaftler Martin Korte erläutert in seinem Buch „Hirngeflüster“ die tragende Rolle des Botenstoffs für unser Belohnungssystem. Dass überraschende Situationen, wie ein Signalton unseres Smartphones oder das Aufleuchten einer Nachricht, mit einem positiven Gefühl einhergehen, habe mit der evolutionären Entwicklung des Menschen zu tun. Durch unser Erwartungs- und Belohnungssystem assoziieren wir Neues mit Gutem und entwickeln Freude daran, Unbekanntes zu entdecken und uns überraschen zu lassen. Lass uns doch mal einen Blick in dein Gehirn werfen.

Dopamin entsteht in unserem Mittelhirn in zwei kleinen Arealen namens „Substantia nigra“ und „A 10“. Diese arbeiten in unserem Gehirn als Detektoren für Unerwartetes und Neues. Leuchtet auf unserem Smartphone eine Push-Nachricht auf, springen diese Detektoren an und produzieren Dopamin. Das ist ein Neurotransmitter, der die Kommunikation im Gehirn über Nervenbahnen ermöglichen soll.

Durch die Verbreitung von Dopamin in den Nervenbahnen wird ein weiter Teil des Gehirns, der Nucleus accumbens, aktiviert. Dieser kleine Hirnkern befindet sich im vorderen Teil des Gehirns unterhalb der Großhirnrinde. Der Nucleus accumbens ist kleiner als eine Erbse und übernimmt dennoch eine bedeutende Funktion in unserem Belohnungssystem. Wird er aktiviert, setzt er Endorphine und körpereigene Opiate frei, die für ein euphorisches Gefühl sorgen. 

Dieser Effekt setzt übrigens nicht nur beim Aufleuchten oder Klingeln unseres Smartphones ein, sondern unter anderem auch „beim Konsumieren von Drogen, bei sportlicher Betätigung, bei sozialen Erfolgserlebnissen, beim Sex oder beim Verzehr eines leckeren Nachtischs“, schreibt Martin Korte. Push-Benachrichtigungen können sich also ähnlich anfühlen wie Sex oder Schokoladenkuchen. So erstaunlich ist es also vielleicht doch nicht, dass wir uns gerne von ihnen ablenken lassen. 

Ausschalten und abschalten


Das Übermaß an Informationen kann allerdings auch zu erheblichen gesundheitlichen Schäden führen. Studien belegen, dass Push-Benachrichtigungen einen negativen Einfluss auf unsere Konzentration und unsere kognitiven Fähigkeiten haben. Das heißt, dass deine Aufmerksamkeit, deine Erinnerungen, deine Lernfähigkeit und deine Kreativität abnehmen. Selbst die Orientierung fällt dir schwerer und auch deine Vorstellungskraft leidet. Wenn unser Handy ständig aufleuchtet, während wir Arbeit erledigen, brauchen wir erwiesenermaßen länger, um auf Reize zu reagieren und machen dabei mehr Fehler. Doch nicht nur das. Die digitale Informationsüberflutung durch Push-Benachrichtigungen kann sogar zu einer größeren Anfälligkeit für Depressionen und Angststörungen führen.

Wird’s dir gerade auch ein bisschen zu viel? Als kleine Pause hat Babette Zander eine Atemübung für dich. Sie ist Meditations- und Yoga-Coachin und bietet in Leipzig Kurse an. Die Übung funktioniert in der Tram, im Büro oder inmitten einer multimedialen Reportage.

Kontrolle ist besser


Sabria David weiß nur zu gut, was Information Overload mit uns anstellt. Die Medienforscherin befasst sich explizit mit den Folgen, aber auch mit den Potenzialen des digitalen Wandels. Vor über zehn Jahren, als die „Grabenkämpfe Online vs. Print“ in vollem Gange waren, verfasste sie das Slow Media Manifest: „Wir dachten uns: Es kann nicht davon abhängen, ob Internet oder Zeitung, ob Papier oder Pixel“, erklärt David.

Konkret beschäftigte sie die Schnelllebigkeit, die durch die digitale Dauerverfügbarkeit von Informationen entsteht. Dort will das Slow Media Manifest ansetzen: „Wie sollten Medien aussehen, um Information Overload entgegenzuwirken?“ Sie formulierte 14 Kriterien, gründete das Slow Media Institut und schuf zugleich einen Trend: Mit ihrem Konzept will sie Medienresilienz fördern und zeigen, wie man die Kontrolle über seine Smartphone-Nutzung zurückerlangen kann.

Maike Engel geht einen radikaleren Weg. Ihr Motto heißt „Digital Detox“: Handy aus und Social-Media-Entzug. Als Burnout-Präventions-Coach veranstaltet sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Sandra Dorschner sogenannte Break-Out-Camps für Erwachsene jeden Alters.

Die Balance finden


In einem mehrtägigen Ferienlager haben die Teilnehmer*innen die Möglichkeit, ihrem digitalen Alltag zu entfliehen. Auf dem Programm steht eine Schnitzeljagd, Basteln, Lagerfeuer und eine Camp-Olympiade – ganz wie man das aus der Kindheit kennt. „Unser grundlegendes Konzept ist ein Ferienlager, so wie es früher war. Und das Werkzeug, um das zu realisieren, heißt Digital Detox“, erklärt Engel. Zu Beginn setzten die Campleiterinnen den Fokus ganz bewusst nicht auf Digital Detox, da ausschließlich der Zurück-in-die-Kindheit-Gedanke im Vordergrund stehen sollte. „Mittlerweile kommen die Leute genau deswegen. Weil sie dort ihr Handy ausschalten können.“

Doch kalter Entzug hat auch seine Schattenseite. Studien zeigen, dass dieser Schritt nicht spurlos an der menschlichen Psyche vorbeigeht. FOMO, Fear of missing out, heißt das Phänomen, das vielen nur allzu bekannt ist. Die ständige Angst, etwas zu verpassen. Weil wir so an die ununterbrochene Informationsflut gewöhnt sind, werden wir panisch, sobald wir über einen längeren Zeitraum keinen Zugriff auf unser Smartphone haben. Manche von uns spüren sogar „Phantom-Vibrationen“ von einem Gerät, dass gar nicht wirklich vibriert. Sabria David hält das Verpassen lernen deshalb für eine äußerst wichtige Kompetenz des heutigen Zeitalters:

Auch im Camp Breakout merke man in den ersten Tagen, wie angespannt die Teilnehmer*innen sind. Erst nach und nach verschwindet die FOMO. „Man merkt, wie sich die Leute frei entfalten, auf einmal kreativ werden und sich Sachen ausdenken“, berichtet Engel. Nach dem Camp muss jede*r selbst einen Weg finden. „Klar können wir Tipps an die Hand geben. Aber dann sind die Teilnehmer wieder auf sich gestellt. Jeder zieht aus der Zeit seine eigenen Erkenntnisse, das ist sehr individuell.“ Um diese Lücke zu schließen und nachhaltig einen gesunden Umgang mit digitaler Informationsüberflutung zu vermitteln, gründeten Engel und Dorschner die Beratung Digitale Balance. „Der Entzug ist nicht die Lösung. Das ist wie mit einer Diät. Es bringt nichts, nichts mehr zu essen, weil dann kommt der Jojo-Effekt. Man muss dauerhaft eine Balance in deinem Alltag integrieren.“

Auch David findet, dass sich Push-Benachrichtigungen und gesunde Mediennutzung nur mit ein bisschen Balance vereinbaren lassen. Denn: „Push-Benachrichtigungen sind ständige Unterbrechungsreize“, ist sie überzeugt. Pushes unterbrechen nicht nur den konzentrierten Arbeitsflow, sondern verhindern sogar, diesen überhaupt zu erreichen.

„Nachweislich braucht man, wenn man abgelenkt wurde, 20 Minuten, um wieder den Fokus zu finden“, weiß Engel. Das sei besonders bei Push-Benachrichtigungen problematisch, da man sie nicht selbst steuern kann. Einer der ersten Schritte zum digitalen Stressmanagement und mehr Produktivität sei deshalb das Ausschalten der Push-Benachrichtigungen. Engel selbst hat 99 Prozent aller Pushes abgestellt. „Um zu sehen, was ich vermissen würde, muss ich erstmal alles ausschalten.“ Die Beraterin empfiehlt, nach zwei bis drei Wochen ein Resümee zu ziehen. So kann man Push-Benachrichtigungen auf ein Minimum reduzieren. Dasselbe gilt für Apps. Ein regelmäßiger Frühjahrsputz auf dem eigenen Handy hilft, besser mit digitalem Overload umzugehen.

Kleine Änderungen, große Wirkung


Die Pushes komplett zu deabonnieren, findet die Medienforscherin Sabria David zwar verständlich, aber nicht notwendig. Stattdessen unterscheidet sie Bring- und Hol-Information: „Wenn ich die Info will, kann ich sie mir bewusst holen“, erzählt David achselzuckend – souverän, auf eigene Entscheidung.

Engel empfiehlt eine Stunde Offline-Zeit vor dem Schlafengehen und das Schaffen digital-freier Räume. In ihrem Fall ist das ihr Schlafzimmer. Digital-freie Zeit lässt sich auch in die Freizeit integrieren, zum Beispiel durch einen Handystapel beim Treffen mit Freund*innen. Aus handyfreien Zonen entwickeln sich langsam Routinen.

Gerade in einer Gruppe bietet es sich an, das Handy einfach mal wegzulegen. Auf einem Handystapel ist dein Smartphone in bester Gesellschaft.

Gerade in einer Gruppe bietet es sich an, das Handy einfach mal wegzulegen. Auf einem Handystapel ist dein Smartphone in bester Gesellschaft.

Engel betont allerdings, dass aller Anfang schwer sei. „Das ist eine Verhaltensänderung. Verhaltensänderungen sind nie einfach. Man muss es halt immer wieder probieren.“ Die Expertin tut sich selbst manchmal noch schwer. Besonders die Online-Seminare während der Pandemie lösten Stress in ihr aus, den sie selbst nicht beeinflussen konnte. In Home-Office-Zeiten bemerkt sie bei vielen Menschen eine Veränderung im Bewusstsein für und im Umgang mit ihrem Handy und digitaler Aufmerksamkeit. Vielen fällt die eigene  Online-Zeit und die damit einhergehende Informationsüberflutung zunehmend negativ auf.

Bewusstsein und Selbstbestimmung: Im Umgang mit einprasselnden Nachrichten und ständiger Erreichbarkeit scheinen die beiden Begriffe magische Zauberwörter zu sein. Doch wie kriegt man das hin, aus dem schnelllebigen Alltag zu entfliehen und in die bewusste Konzentration einzutauchen? Maike Engel verrät ihr Geheimnis: „Ich glaube, dass man durch Meditation und Achtsamkeitsübungen ein besseres Gefühl dafür bekommt, was die Handynutzung angeht.“

Mit dem Thema Achtsamkeit kennt sich auch Babette Zander bestens aus. Sie sieht in Entschleunigung eine Möglichkeit, die bewusste Kontrolle über die eigenen Gedanken zurückzuerlangen – und damit auch über die Mediennutzung.

Impressum

Redaktion: Julia Bartsch, Vincent Ebneth, Katharina Forstmair, Katharina Lorch, Deborah Weber
Redaktionelle Leitung: Prof. Dr. Cornelia Wolf
Illustrationen: Katharina Lorch
Foto Credits: Ulrike Schacht (Breakout-Camp)

Verantwortlich: Katharina Lorch
Universität Leipzig
Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft
Nikolaistraße 27-29
04109 Leipzig
k.lorch@studserv.uni-leipzig.de