Nicht
eine mehr
Polen hat eines der striktesten Abtreibungsgesetze weltweit. Auf der Suche nach Lösungen überschreiten Polinnen Landesgrenzen, unter anderem nach Deutschland. Der Versand von Pillen kann Abhilfe schaffen.
Widerstand in Polen
Nicht nur eine Geschichte der Unterdrückung,
sondern auch ein Kampf um Selbstbestimmung.
© Tomasz Sójka
STOP TO KILL US” steht auf einem Plakat, eines von vielen, das an diesem regnerischen Junitag bei einer Demonstration in der polnischen Stadt Łódź zu sehen ist. Zahlreiche Menschen haben sich hier versammelt, um gegen die Abtreibungsgesetze der konservativen Regierung zu protestieren. Einige haben sich schwarze Blitze ins Gesicht gemalt, das Erkennungszeichen des Strajk Kobiet, der polnischen Frauenstreikbewegung.
Auf manchen Schildern steht der Name der polnischen Abtreibungsaktivistin Justyna Wydrizina, die im März wegen Beihilfe zu Abtreibung verurteilt wurde, weil sie einer ungewollt schwangeren Frau Abtreibungspillen geschickt hatte. Wydrizina ist Mitbegründerin und Mitglied des polnischen Kollektivs Abortion Dream Team, das zum europäischen Netzwerk Abortion Without Borders gehört.
Aleksandra Magryta ist Teil einer anderen polnischen Organisation - Federa. Mit den Sorgen und Problemen Schwangerer in Polen hat sie jeden Tag zu tun. Federa existiert bereits seit 30 Jahren und setzt sich für die reproduktiven Rechte von Frauen in Polen ein.
© Tomasz Sójka
Polen sei auch beim Zugang zu Verhütungsmitteln absolutes Schlusslicht, klagt Magryta. Täglich bearbeite sie mit ihren Kolleginnen die Anfragen und Anrufe polnischer Frauen, die ungewollt schwanger seien und sich über einen Abbruch informieren wollen. 15 solcher Telefonate führe sie jeden Tag, seit der Gesetzesverschärfung 2020 seien es mehr Anfragen geworden. Die Verschärfung betreffe nicht nur Schwangere. »Viele Frauen haben Angst überhaupt schwanger zu werden«, sagt sie.
Aleksandra Magryta über ihre Arbeit bei der polnischen Organisation Federa. © Marissa Boll
Trotz des starken Rückgangs an offiziellen Abtreibungen arbeitet die Organisation weiter daran, dass Frauen legal abtreiben können. Dafür stellen sie Kontakte zu Psychiater:innen und Ärzt:innen her, die bescheinigen, dass die Schwangerschaft eine Gefahr für das Leben und die Gesundheit der Personen darstellt. Diese Arbeit gestaltet sich schwierig: »Es ist möglich, aber sehr schwer, weil es viele Ärzte und Ärztinnen gibt, die immer wieder Angst haben, dass es illegal ist und sie angezeigt werden könnten, obwohl es legal ist«, so Magryta.
Was ihr Sorgen macht, ist die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft in der Frage des Abtreibungsrechts. Zwar bekomme die Organisation nicht mehr so viele Hassmails und Drohbriefe zugesendet wie vor einigen Jahren, »aber es gibt noch immer viele Gegner von Frauenrechten, die Schwangerschaftsabbrüche mit Mord gleichsetzen«.
Seit 1993 hat Polen mit dem »Abtreibungskompromiss« eines der strengsten Abtreibungsgesetze europaweit. Im Oktober 2020 wird das Gesetz weiter verschärft.
Die konservative Regierungspartei PiS fordert, dass ein Abbruch mit embryopathischer Indikation (Fehlbildung des Fötus) verfassungswidrig ist. Der Antrag wird bewilligt. Abbrüche sind jetzt nur noch bei einer Vergewaltigung oder wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist legal.
Seitdem gilt quasi ein Abtreibungsverbot. Denn davor wurden rund 97 Prozent aller Abtreibungen aus embryopathischen Gründen vorgenommen.
Seit Juli 2022 werden Schwangere zudem in einer Gesundheitskartei erfasst.
Offizielle Zahl an Abtreibungen 2021:
107
Geschätzte Dunkelziffer:
150.000
Nach der Gesetzesverschärfung im Jahr 2020 sinkt die Zahl der offiziell durchgeführten Abtreibungen nach Angaben des Gesundheitsministeriums auf 107.
Doch Zahlen von Organisationen wie Federa zeigen: Die Dunkelziffer ist um ein hunderttausendfaches höher.
Die Schwangerschaftsabbrüche werden nun vor allem von feministischen Organisationen getragen, die hauptsächlich durch Spendengelder finanziert werden.
Auch rechtlich können betroffene Frauen gegen das strikte Abtreibungsgesetz vorgehen. Kamila Ferenc arbeitet seit 2016 in der Justizabteilung von Federa. Sie ist studierte Anwältin und lebt in Warschau. Neben hunderten von Beratungsgesprächen übernimmt sie etwa 5 bis 10 Fälle pro Monat, die sie als Anwältin vertritt. Oft geht es um Frauen, die auf ihr Recht auf eine Abtreibung klagen.
»Die Komplikationen treten auf, wenn sie im Krankenhaus sind, wenn sie gesundheitliche Komplikationen haben oder wenn sie die Schwangerschaft aufgrund eines Gesundheitsrisikos unterbrechen müssen«, erklärt Ferenc.
Psychische Gefährdung sei ein fundamentaler, rechtlicher Grund, um die Schwangerschaft abzubrechen. Meistens würden sich die Krankenhäuser aber weigern, einen Abbruch durchzuführen. »Dann ist mein rechtliches Eingreifen von entscheidender Bedeutung.« Ferenc erzählt, sie gewinne so gut wie jeden Fall: »Die Argumente sind alle auf unserer Seite«.
Am europäischen Gerichtshof (EuGH) liegen momentan etwa 30 Fälle von Ferenc vor. Anfang Juni hatte der EuGH eine ihrer Klagen zurückgewiesen. Die betroffenen Frauen beklagten, dass ihnen der Zugang zu legalen Schwangerschaftsabbrüchen auch bei Komplikationen verwehrt werde.
Die Richter kritisierten das Fehlen medizinischer Nachweise, die Gefahren würden noch in der Zukunft liegen. Denn keine der Frauen war zu dem Zeitpunkt der Klage schwanger oder benötigte eine Abtreibung. Dadurch sei es zu abstrakt, die Frauen als Opfer im Sinne der europäischen Menschenrechtskonvention anzuerkennen.
© Kamila Ferenc
© Kamila Ferenc
Ferenc war klar, dass die Klage abgelehnt werden würde. »Sie war Teil einer größeren Kampagne«, erklärt sie. »Wir wussten, dass es eine verrückte Idee war.« Erfolgreich war es für sie und die Frauen trotzdem – auf einem symbolischen Level.
Sowohl Ferenc als auch Magryta setzen auf die anstehenden Parlamentswahlen im Oktober. Das Abtreibungsgesetz werde dort auf jeden Fall ein großes Thema sein, ist Magryta sich sicher. »Wir erwarten von den Oppositionsparteien ein Versprechen, dass sie etwas für das Abtreibungsrecht in Polen tun.«
»Wir wollten, dass die Frauen Macht zurückgewinnen.
Ihre Würde.
Dass sie gegen ihr eigenes Land klagen, das ihnen ihre Rechte genommen hat.«
Abbruch in Deutschland
Pol:innen erhalten Unterstützung bei dem Schwangerschaftsabbruch in Deutschland, wo der Paragraf 218 bis heute den gynäkologischen Eingriff kriminalisiert.
© Doctors for Choice
»Indem ich mich für Schwangerschaftsab-brüche einsetze, sende ich ein klares Signal des Widerstands gegen eine Politik, mit der ich nicht einverstanden bin.«
Für das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper, überqueren viele ungewollt Schwangere aus Polen die Landesgrenze zu Deutschland, um abzutreiben. Um Unterstützung bei der Organisation und Bürokratie zu erhalten, wenden sich sich häufig an aktivistische Netzwerke.
Ciocia Basia ist eines davon. Die Initiative, die ins Deutsche übersetzt “Tante Barbara” heißt, arbeitet anonym, denn ihre Aktivitäten finden in einer rechtlichen Grauzone statt. Groß ist die Sorge davor, Familie oder Freunde, die sich in Polen befinden, in Gefahr zu bringen. Dennoch ist Ciocia Basia in den Sozialen Medien präsent und Betroffene können ihre Telefonnummer und E-Mail-Adresse auffinden. Seit der Verschärfung der Gesetzeslage in Polen im Jahr 2021 sei nach Angaben der Initiative die Nachfrage um circa 30 Prozent gestiegen. Pro Monat würden sich 15 bis 20 Pol:innen bei ihnen melden, die Hilfe bei einem Schwangerschaftsabbruch benötigen.
»Die Frauen kommen oft aus kleinen Dörfern und haben ein niedriges Bildungsniveau. In der Metropole Berlin anzukommen ist meist eine komplette Überforderung - nicht nur sprachlich«, erklärt Oliwia*, eine der Organisator:innen.
Ciocia Basia organisiert die Reise, vereinbart Beratungsgespräch und Operationstermin, sowie die Übernachtung in Berlin. Eine Übersetzer:in begleitet den Klinikaufenthalt. Die Kosten für einen ambulanten Schwangerschaftsabbruch belaufen sich auf 350 bis 600 Euro. Wenn nötig übernimmt die Initiative die gesamten Kosten.
Oliwia migrierte vor sieben Jahren von Polen nach Deutschland. Nur kurze Zeit später begann sie sich zu engagieren. Die Mittzwanzigerin möchte anderen Menschen das bieten, was sie selbst gebraucht hätte, als sie jung war. »Im Alter von 18 Jahren hatte ich so große Angst vor einer Schwangerschaft, dass ich Sex nicht genießen konnte.« Besonders wütend mache sie die Politik. Mit großer Besorgnis verfolge sie die Entwicklungen der polnischen Bevölkerung und ihres Rechtssystems.
*Name wurde anonymisiert
Strafbar unter Vorbehalt
Dagegen sieht die aktuelle Rechtslage in Deutschland vor, dass ein Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten zwölf Wochen und nach vorheriger Beratung straffrei bleibt.
Ausschlaggebend für den Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland ist der Paragraph 218 des Strafgesetzbuches: »Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft«. Dieser Paragraf existiert seit über 150 Jahren in Deutschland und genießt bis heute Gültigkeit. In der DDR wurde das Recht auf Schwangerschaftsabbruch erstmalig in der deutschen Geschichte legal. Am 9. März 1972 erklärte der damalige Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger das neue Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft in der ostdeutschen Öffentlichkeit.
Mit der Wiedervereinigung galt der Paragraph 218 und damit das restriktive Verbot wieder im gesamtdeutschen Raum. Nach wiederholter Reformierung in den 90er Jahren tritt die im Paragrafen festgeschriebene Strafe nicht in Kraft, wenn folgende drei Bedingungen erfüllt sind:
- Die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch verlangt und dem Arzt durch eine Bescheinigung nach § 219 Abs. 2 Satz 2 nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff beraten lassen hat.
- Der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen wird.
- Die Befruchtung der Eizelle nicht mehr als zwölf Wochen zurück liegt.
Alicia Baier ist Gynäkologin und Gründungsmitglied von Doctors for Choice. Seit ihrem Medizinstudium setzt sie sich für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche ein.
Die 31-Jährige absolvierte ihre Facharztausbildung bei der Gynäkologin Kristina Hänel. Diese landete 2017 vor Gericht, weil sie auf ihrer Website über Schwangerschaftsabbrüche informierte und damit gegen den Paragrafen 219a verstieß, der ein Verbot von Werbung für Schwangerschaftsabbrüche vorsah. Dieser Paragraf betraf alle Ärzt:innen, die sich öffentlich zu Schwangerschaftsabbrüchen äußerten. So auch Alicia Baier: »Es war sehr unangenehm mit dem Strafgesetz konfrontiert zu sein und zu befürchten, vor Gericht gehen zu müssen. Das hat sich angefühlt, als wären wir hier im 15. Jahrhundert.«
Die Öffentlichkeitsarbeit von Doctors for Choice rückte den Paragraphen in den politischen und medialen Diskurs und erreichte dadurch im Jahr 2022 die Aufhebung des Werbeverbots von Schwangerschaftsabbrüchen.
Mit der neuen Koalition kam bei den Aktivist:innen Hoffnung auf: Zum ersten Mal seit langem ist die CDU, die sich in der Vergangenheit stets als Hauptgegner des Rechts auf Selbstbestimmung behauptet hatte, nicht Teil der Regierung. Die Ampelregierung hielt in ihrem Koalitionsvertrag fest, eine Kommission einrichten zu wollen, die den Paragrafen 218 überprüfen soll. Ob daraufhin wirklich etwas folgt, sieht Baier derzeit skeptisch.
»Wir alle kennen Menschen, die schon mal eine Schwangerschaft abgebrochen haben - vielleicht ohne, dass wir es wissen. Das betrifft uns alle als Gesellschaft und die Medizin muss anerkennen, dass das in ihren Bereich fällt.«
Mit dem Regierungswechsel hat Alicia Baier Hoffnung auf eine liberale Gesellschaft, aber ebenso Angst vor dem Erstarken der AfD und antifeministischer Stimmen. © Jamil Zegrer
Vergangenes Jahr wurden in Deutschland 104.000 Abtreibungen durchgeführt. Das sind ca. 285 Abbrüche pro Tag.
Das entspricht einem Schwangerschaftabbruch alle fünf Minuten.
Quelle: Statistisches Bundesamt, 2022
Doctors for Choice fordern eine feministische Politik, die den Vereinbarungen der UN-Frauenrechtskonventionen nachkommt. Eine Entkriminalisierung würde bedeuten, dass die Pflicht der Beratung und Wartezeit wegfällt und die Kosten von der Krankenkasse vollständig übernommen werden.
Mit Papayas ins Curriculum
Das derzeitige Curriculum des Medizinstudiums sieht die Thematisierung von Schwangerschaftsabbrüchen nur innerhalb eines Ethikseminars vor. Methoden erlernen die Studierenden höchstens freiwillig.
Alicia Baier engagiert sich seit ihrer Studienzeit für die Enttabuisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in unserer Gesellschaft. Bereits 2015 gründete sie die Organisation Medical Students for Choice, um auf dieses Thema aufmerksam zu machen.
Alicia Baier über die Gründung von Medical Students for Choice und die Idee, Papayaworkshops für Medizinstudierende an deutschen Universitäten anzubieten. © Jamil Zegrer
In einem kahlen Hörsaal mit flackernden Industrieleuchten sind an diesem Nachmittag Tische aufgereiht und mit Geschirrtüchern bedeckt. Jeweils eine Papaya und eine eingepackte Plastikspritze liegen darauf. Einige Medizinstudierende sind an diesem Tag gekommen, um zu lernen, wie Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden. Sie haben sich in Zweierteams zusammen gefunden: eine Person hält die Papaya, die andere verpasst der Frucht ein Loch. So kann die Spritze mit dem Vakuum hineingeschoben werden. »Klappt ja voll gut«, merkt eine Studierende an, »halt mal den Uterus«. Als sich das Vakuum löst, schießen die Kerne nach oben. Der Eingriff ist geschafft.
An der Papaya wird der operative Schwangerschaftsabbruch erst durch eine Ärztin gezeigt und dann von den Medizinstudierenden in den Seminaren selbst geübt.
© Doctors for Choice
Auch in der Realität dauert der Eingriff im Normalfall nicht länger als 10 Minuten. »Sehr schade, dass es kein Teil der regulären Lehrplanung ist«, bedauert eine Studierende. Der Workshop sei sehr beliebt und die Plätze immer schnell ausgebucht, berichten auch andere Teilnehmer:innen.
Organisiert werden diese Workshops von Students for Choice zusammen mit den Ärzt:innen von Doctors for Choice. Alicia Baier leitet selbst oft die Papaya-Workshops. Vorteil dieser Methode sei die Praktikabilität. Ohne Strom könnten Abbrüche so sehr mobil und ohne Umstände durchgeführt werden. In deutschen Kliniken werden zwar elektrische Absauggeräte verwendet, die Handhabung hingegen sei dieselbe.
Weite Wege
Ein großes Problem stellt der Zugang zu Abtreibungen dar. Von 12.000 niedergelassenen Gynäkolog:innen führt nur jede:r Zehnte Abbrüche durch. In manchen Regionen Deutschlands sind kaum Praxen aufzufinden, an die sich eine Schwangere wenden kann. Vor allem in den süd- und westlichen Bundesländern - Bayern, Baden-Württemberg und Rheinand-Pfalz - kann eine Versorgung mit Schwangerschaftsabbrüchen kaum gewährleistet werden.
Alicia Baier über Schwangerschaftsabbrüche als stigmatisierten Eingriff, der bürokratische und administrative Hürden beinhaltet.
© Jamil Zegrer
In Berlin ist die Dichte an Gynäkolog:innen, die Abtreibungen durchführen hingegen hoch. So findet auch Ciocia Basia immer wieder Praxen für die Zusammenarbeit, wenn sie polnischen Frauen den Weg nach Deutschland ermöglichen. Dennoch versuchen die Aktivist:innen die Wege für Schwangere zu verkürzen und den Abbruch über Pillen zu organisieren, die sie per Post verschicken.
Pillen per Post
Ein medikamentöser Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland eine gängige Option. Über postalische Wege können die Medikamente für einen Abbruch auch Schwangere in Polen erreichen.
Ein Schwangerschaftsabbruch kann operativ oder medikamentös erfolgen - bei der Einnahme von Tabletten wird die Schwangerschaft hormonell beendet und der Embryo augestoßen. Auf diese Weise können Schwangere einen Abbruch bis zur neunten Woche von Zuhause aus durchführen.
Die benötigten Medikamente Mifepriston und Misoprostol stehen seit 2005 auf der Liste der unverzichtbaren Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation, sind aber in vielen Ländern immer noch nicht erhältlich.
In Deutschland wird rund ein Drittel der Abbrüche medikamentös durchgeführt. Nach dem Beratungsgespräch wird bei einem Folgetermin in der Praxis die erste Tablette eingenommen. Den zweiten Wirkstoff, der die Blutung einleitet, können Schwangere auch Zuhause schlucken.
Während der Coronapandemie gestaltete sich der Zugang zu Praxen und Beratungsgesprächen schwerer. Um weiterhin einen barrierearmen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen zu ermöglichen, starteten Alicia Baier und ihre Kolleginnen ein Pilotprojekt: die telemedizinische Abtreibung mit dem Versand von Abtreibungspillen. Dabei müssen die selben Voraussetzungen erfüllt sein, wie für einen operativen Eingriff: Es bedarf eines Beratungsgesprächs bei einer Praxis oder Beratungsstelle vor Ort, außerdem muss ein Ultraschallbild an das Team geschickt werden. Während der medikamentösen Einnahme werden die Schwangeren über einen Videocall begleitet.
Baier und ihre Kolleginnen stellten fest, dass diese Methode funktioniere, dass sie sicher und effektiv sei. »Wir haben viel mehr Nachfragen, als wir leisten können«, berichtet die Gynäkologin, und plädiert dafür, solch ein System in Deutschland größer aufzubauen. Telemedizin könne eine Möglichkeit sein, um die unterschiedlichen guten Zugänge in Deutschland auszugleichen: »Am Ende haben wir festgestellt, dass die meisten Anfragen nicht coronabedingt waren, sondern wegen der schlechten Versorgungssituation. Die Hälfte der Anfragen kamen aus Bayern.«
Für Frauen in Polen wird das Modellprojekt nicht angeboten, da es für die deutsche Organisation illegal wäre. Organisationen wie women help women oder women on web haben sich auf den internationalen Versand spezialisiert und versenden nach Fallprüfungen die Abtreibungspillen an Schwangere weltweit.
Kinga Jelinska ist gebürtige Polin. Vor knapp neun Jahren gründete sie mit anderen die gemeinnützige Organisation women help women, bis heute ist sie die Geschäftsführerin. Die feministische Initiative setzt sich weltweit für einen selbstbestimmten Zugang zu Abtreibungen ein. Schwangere, die einen Abbruch wollen, können bei der Organisation telemedizinische Unterstützung bekommen - zum Beispiel über die Beratungshotline oder mit versendeten Abtreibungspillen. Zwei Jahre später, im Jahr 2016, rief Jelinska eine weitere Organisation gemeinsam mit Gleichgesinnten ins Leben, Abortion Dream Team. Diese fokussiert darauf, Abtreibungen in Polen zu entstigmatisieren. In den Initiativen arbeiten feministische Aktivist:innen, medizinische Fachkräfte und Wissenschaftler:innen zusammen. Die Arbeit sieht Jelinska als ethische Verpflichtung - denn ein Schwangerschaftsabbruch sei »keine Karte, die Politiker:innen spielen, es ist ein Menschenrecht!«.
© Kinga Jelinska
Als 2020 in Polen die Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch verschärft wurden, hätten sich die Anfragen an ihre Organisation innerhalb von einer Woche verdreifacht. Die aktuelle Gesetzgebung in Polen zu Schwangerschaftsabbrüchen sei laut der Aktivistin ein »komplettes Chaos«. Weder mit wissenschaftlichen Belegen noch durch die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation könne die bestehende Gesetzeslage gerechtfertigt werden. Gesellschaftliche Normen und das Patriarchat seien in ihren Augen die Grundlagen der Verschärfungen.
Teil des weltweiten Netzwerks an Initiativen, die sich für den Zugang zu Abtreibungen einsetzen, ist auch women on web. Die kanadische Organisation stellt Informationen und Hilfe zu Verhütung und Schwangerschaftsabbruch zur Verfügung, bietet jedoch auch an, Abtreibungspillen per Post zu schicken. Der Pillenversand kann für Betroffene, die in ihrem Land keinen sicheren oder legalen Abbruch haben, oft eine Lösung sein - die auch kostengünstiger als eine Reise in Länder mit legalen, operativen Abtreibungen ist.
Die Mitarbeitenden von women on web sind täglich zu erreichen, begleiten in 15 verschiedenen Sprachen Menschen in ihrem Prozess um Abtreibungen. Seit der Gründung im Jahr 2005 hat women on web über 100.000 Schwangeren telemedizinische Abbrüche ermöglicht und dabei Pillen in mehr als 200 Länder schicken lassen. Die Pillen nach Polen zu bestellen ist nach polnischer Gesetzgebung nicht illegal, strafbar machen sich nur diejenigen, die die Pillen beschaffen.
Internationaler Pillenversand
Auf der Website von women on web füllen Schwangere ein Formular aus und beantworten 30 Fragen zu ihrer Situation. Im Büro der Initiative werden die Fragebögen geprüft und darüber entschieden, ob die Person die Pillen erhalten darf. Ausschlusskriterien sind zum Beispiel, wenn die Frau über die neunte Schwangerschaftswoche hinaus ist, unter bestimmten chronischen Erkrankungen leidet, keine Hilfspersonen bei sich hat oder der Zugang zu professioneller medizinischer Versorgung nicht innerhalb einer Stunde gewährleistet ist.
Darf die Person die Pillen erhalten, stellen Ärzt:innen von women on web ein Rezept aus. Durch ein internationales Apotheken-Netzwerk der Initiative können Apotheken das Rezept einlösen und die Pillen an die Schwangeren per Post senden.
Die Pilleneinnahme Zuhause
Postalisch erhalten die Schwangeren dann zwei verschiedene Pillen, die nacheinander eingenommen werden müssen. Die erste Pille enthält den Wirkstoff Mifepriston. Dieser sorgt dafür, dass im Körper die Produktion des Hormons Progesteron gestoppt wird, das für die Entwicklung des Embryos benötigt wird. So wird dem Körper vorgetäuscht, nicht mehr schwanger zu sein. Anschließend muss die zweite Pille genommen werden: Misoprostol. Der Wirkstoff löst künstliche Wehen aus, unter Krämpfen setzen Blutungen ein, die den Uterus leeren. Der Prozess gleicht einer frühen Fehlgeburt und dauert normalerweise vier bis fünf Stunden.
Der Weg des Schwangerschaftsabbruchs
mit der Pille
Bei der Ablösung werden Gewebeklumpen oder größere Blutgerinnsel ausgeschieden, der Embryo selbst ist aber sehr klein. Dieser ist in der achten Woche etwa 0,6 bis 1,3cm groß - das entspricht der Größe einer Erbse.
Nebenwirkungen: Neben Krämpfen und Blutungen kann der Abbruch mit Misoprostol zu Magenproblemen, Durchfall, Übelkeit und Erbrechen, Fieber und Schüttelfrost führen.
Schwangere, die keinen Zugang zu Mifepriston haben, können auch nur die zweite Pille mit Misoprostol einnehmen. In Kombination funktioniert eine Abtreibung hingegen besser und sicherer. Grundsätzlich können diese Pillen bis zur elften Schwangerschaftswoche genommen werden. Je später jedoch die Einnahme erfolgt, desto kleiner die Wahrscheinlichkeit, dass der Abbruch gelingt. Ein bis zwei Wochen nach der Ausblutung muss mit einem Bluttest, Ultraschall oder Schwangerschaftstest festgestellt werden, ob der Abbruch erfolgreich war.
Der Wirkstoff Mifepriston ist auch durch die erste Abtreibungspille RU-486, heute mifeprex, bekannt. Diese wurde in den 1980ern in Frankreich entwickelt und ist seit 1999 in Deutschland zugelassen. Die Hersteller müssen zertifizierte Praxen und Krankenhäuser direkt beliefern, öffentliche Apotheken dürfen den Wirkstoff nicht führen. In Polen ist Mifepriston nicht zugelassen.
Länder mit Zulassung für Mifepriston
Mifepriston wird im sogenannten Off-Label-Gebrauch unter anderem auch zur Geburtseinleitung oder bei operativen Eingriffen wie dem Einlegen der Spirale genutzt.
Erfahrungen mit Abtreibungspillen
Auf womenonweb.org berichten Frauen aus der ganzen Welt über ihre Abtreibung mit Tabletten - von dem Kontakt mit der Initiative bis hin zu den Nebenwirkungen. Darunter sind auch viele aus Polen, die von ihrer Angst vor der rechtlichen Lage und der gesellschaftlichen Stigmatisierung erzählen.
Nat
Ich war wütend, dass [eine Abtreibung] so viel kostete, dass der Staat mich im Stich ließ und ich für mich selbst sorgen musste. Dass er so tut, als gäbe es in Polen keine Abtreibung. Ich hasse die Stigmatisierung von Abtreibungen und von Menschen, die eine Abtreibungserfahrung haben (Polen, 2021).
Olga
Ich habe mich für diese Methode entschieden, weil sie mir am wenigsten „invasiv“ erschien - sowohl körperlich als auch mental. (...) Ich dachte auch über einen Ausflug mit meinem Partner in die Klinik in der Slowakei nach. Es war die richtige Entscheidung, denn in der Privatsphäre des Hauses bleibt bei starken Schmerzen wahrscheinlich weniger Zeit, über all das nachzudenken (Polen, 2020).
Julia
Aufgrund der illegalen Abtreibung konnte ich keine angemessene Versorgung erhalten, ich fühlte mich zurückgewiesen, ich fühlte mich bedroht und ich hatte das Gefühl, ich sollte es geheim halten. Ich habe immer noch das Gefühl, dass dies gesellschaftlich gelyncht werden könnte (Polen, 2021).
Algorithmen als Gegner telemedizinischer Abbrüche
Der Weg zu einem Schwangerschaftsabbruch - von der Information bis zum Bestellen von Pillen - verläuft oft über das Internet. Zur Gründungszeit von women on web bot das Internet die ideale Plattform für die Arbeit der Initiative, die als erste Organisation weltweit Abtreibungspillen verschickte. Heute dominieren Algorithmen und Suchmaschinenoptimierung die Auffindbarkeit von Angeboten im Netz: Nach einem Update von Google im Mai 2020, mit dem Suchergebnisse präzisiert werden sollten, seien laut der Initiative die Seitenbesuchszahlen von women on web um 75 Prozent eingebrochen. Für tausende Suchende sei die Website nicht mehr auffindbar gewesen. Für women on web seien daher die auffälligsten Einschränkungen Regierungen, die ihre Website zensieren, digitale Plattformen, die Inhalte unterdrücken, oder Suchmaschinenalgorithmen, die es schwer machen, sie im Internet zu finden - und somit den Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen verhindern. Die Abtreibungshilfe wird immer mehr eine Frage der digitalen Rechte.
Ob auf der Straße, im Internet oder vor Gericht: Den internationalen Kampf für selbstbestimmte Schwangerschaftsabbrüche führen Aktivist:innen auf unterschiedlichsten Wegen. Doch die Kriminalisierung zwingt Betroffene, neue und riskante Lösungen zu finden.
Pillen per Post und langwierige Gerichtsprozesse bleiben lediglich die Symptombekämpfung eines restriktiven Systems. Der Zorn des Widerstands richtet sich vor allem gegen die Regierungen - Politiker:innen haben die Entscheidungsmacht über die reproduktiven Rechte der Frauen.
In Polen könnte sich dies vielleicht bald ändern: Im Rahmen der anstehenden Parlamentswahlen im Herbst strebt ein Großteil der Oppositionsparteien eine Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes an.
© Tomasz Sójka
Impressum
Redaktion: Charis Mündlein, Hannah Jagemast, Johanna Klima, Marissa Boll, Svenja Jäger, Yvonne Schmidt
Kamera: Jamil Zegrer
Schnitt: Leon Haubner
Redaktionelle Leitung: Prof. Dr. Cornelia Wolf
Foto& Video Credits: Tomasz Sójka, Doctors for Choice Germany, Marissa Boll, Alicia Baier, Dall-E, Kinga Jelinska, Johanna Klima
Verantwortlich:
Yvonne Schmidt
yvonne-s96@web.de
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