Sorbisch reloaded

Wie junge Sorben ihre Sprache leben

Die Sorben gehören zur Lausitz – genau wie die Kohle. Dennoch gilt ihre Sprache als bedroht. Doch eine junge Generation beweist, dass Sorbisch noch längst nicht ausgestorben ist.


„Ich wusste nicht, dass es Sorben gibt, obwohl ich aus Sachsen komme“, sagt Oliver Böhm. Seitdem er als Schlagzeuger in einer Sorbischen Band spielt, ist das anders. „Deswegen haben wir Oli ins Boot geholt“, lacht sein Bandkollege Matej Dźisławk. Zusammen mit Jurij Hantuš bilden die beiden die sorbische Band „Skupina Astronawt.“

Nach einer längeren Urlaubspause proben die drei an diesem Tag zusammen in Dźisławks Wohnzimmer im Süden von Leipzig. Eine Wand ist grau gestrichen, das Sofa davor hat die gleiche Farbe. Im weiß lackierten Regal liegen mehrere Bücherstapel mit sorbischer Literatur. Vielen davon sieht man an, dass sie schon sehr oft gelesen wurden. Sie sind Dźisławks Inspirationsquelle für die Songtexte. “Ich versuche darin oft, zum Beispiel alte sorbische Gedichte in die Gegenwart zu holen”, sagt er. 

Oliver Böhm, Matej Dźisławk und Jurij Hantuš (v.l.n.r.) von Skupina Astronawt proben in Dźisławks Wohnzimmer.

Oliver Böhm, Matej Dźisławk und Jurij Hantuš (v.l.n.r.) von Skupina Astronawt proben in Dźisławks Wohnzimmer.

Keyboarder Dźisławk und Violinist Hantuš kommen aus der gleichen Familie und sind sorbischsprachig aufgewachsen. „Wenn wir alle zu Hause sind, dann sind wir 31 Leute und alle sprechen Sorbisch am Tisch“, erzählt Dźisławk.

Darunter sind auch nicht-sorbische Familienmitglieder, die die Sprache erst nachträglich gelernt haben – so wie Böhm zur Zeit.  Dabei helfen ihm seine Grundkenntnisse in Kroatisch, das wie das Sorbische eine slawische Sprache ist.

Vom Aussterben bedroht

Familientreffen, bei denen sich dutzende Gäste auf Sorbisch unterhalten, waren früher eine Selbstverständlichkeit. Noch vor 150 Jahren stellte das westslawische Volk die Bevölkerungsmehrheit in der Lausitz. Nach dem Zuzug deutschsprachiger Arbeitskräfte wurden die Sorben zwischen Bautzen und Cottbus zur Minderheit. In der Bundesrepublik ist das Sorbische, neben Nordfriesisch, Saterfriesisch, Dänisch und Romani, als eine von vier Minderheitensprachen offiziell anerkannt.

Das Sorbische teilt sich in zwei Sprachen auf. Till Vogt vom Institut für Sorabistik an der Universität Leipzig beschreibt ihren Unterschied: „Niedersorbisch und Obersorbisch sind ähnlich weit voneinander entfernt, wie Deutsch und Niederländisch.“ Rund um das katholische Bautzen spricht man Obersorbisch, es ähnelt dem Tschechischen. Niedersorbisch dagegen ist enger mit dem Polnischen verwandt. Es ist vor allem im evangelisch geprägten Südosten Brandenburgs verwurzelt.

Heute listet die UNESCO Ober- und Niedersorbisch in ihrem Atlas bedrohter Sprachen. Sie laufen Gefahr, noch in diesem Jahrhundert völlig zu verschwinden. Der promovierte Linguist Frank Seifart, Vorsitzender der Gesellschaft für bedrohte Sprachen e.V., bestätigt diese Einschätzung: „Nach allen messbaren Kriterien ist die sorbische Sprache bedroht.“

Obwohl viele Lausitzer Familien sorbische Wurzeln haben, lernen immer weniger Kinder die Sprache. So erging es auch Hagen Domaška. Der Mittvierziger stammt zwar aus Hoyerswerda im Kernsiedlungsgebiet der Sorben, lernte die Sprache aber erst als Erwachsener. „Man kann seit den 1950er-Jahren beobachten, dass das Sorbische rückläufig ist“, klagt er. Ein Grund dafür sei der niedrige soziale Status, der lange mit der Sprache einherging. Dabei sind sorbische Trachten und Traditionen tief in der Folklore der Region verankert. „Wie viele Menschen Sorbisch sprechen und wie viele Menschen sich dazu bekennen, sorbisch zu sein, sind zwei unterschiedliche Dinge“, betont Domaška deshalb. Schätzungsweise bekennen sich in der Region zwischen 50.000 und 100.000 Menschen aktiv zu einer sorbischen Identität.

Wie viele von ihnen tatsächlich Sorbisch sprechen, kann man indes nur schätzen. Anhand der Teilnehmerzahlen am sorbischen Schulunterricht und der Menge der im sprachlichen Kontext engagierten Ehrenamtler käme man dabei auf 10.000 bis 20.000 Sprecher des Obersorbischen, zählt Domaška. Mehrheitlich leben sie in der Nähe von Bautzen, in Dörfern wie Radibor oder Göda. Dort befindet sich das letzte zusammenhängende Sprachgebiet. Für Domaška ist das der große Schatz des Obersorbischen: „Denn von dort kommen die Muttersprachler, bei denen wir es noch lernen können.“

Den Niedersorben fehlt ein solches Sprachgebiet. Laut Sprachwissenschaftler Vogt gibt es nur noch wenige Muttersprachler, die mittlerweile oft 80 Jahre und älter seien. Gemeinsam mit Schülern, die noch heute Niedersorbisch als Fremdsprache lernen, schätzt man 2000 Sprecher. Viele von ihnen lernen am Niedersorbischen Gymnasium in Cottbus.



"In Dresden wurde mir auch schon gesagt, ich solle gefälligst Deutsch sprechen."
Měrko Radyserb, Betreiber einer sorbischen Meme-Seite

Überlebensstrategien

Eine Stahlkonstruktion verbindet den gläsernen Neubau mit dem denkmalgeschützten Schulgebäude aus der Gründerzeit. Von außen wirkt das Niedersorbische Gymnasium, als wollten seine Architekten Vergangenheit und Zukunft verbinden. Rund 500 Teenager lernen hier Niedersorbisch. Sie könnten ein Aussterben der Sprache verhindern. Im Inneren der Schule liegt hinter einem der goldgerahmten Türbögen die sorbische Bibliothek, ein kleines Zimmer, in dem Tobias Geis zwischen hohen Bücherstapeln Platz nimmt.  

Er ist hier Lehrer für Sorbisch und Englisch. Seine Familie stammt aus Hessen, daher kam Geis erst in der Grundschule mit dem Niedersorbischen in Kontakt. Damit geht es ihm wie vielen Kindern, die heute in der Niederlausitz groß werden. „Die Familie ist als Sprachraum für das Niedersorbische weitestgehend tot”, erklärt Geis. Deswegen werde Niedersorbisch vor allem in der Schule und über verschiedene Kulturangebote vermittelt. Um das Sprachenlernen dabei so einfach wie möglich zu gestalten, wurde das Witaj-Projekt ins Leben gerufen. In Witaj-Kitas und -Vorschulen wird Kindern die Sprache schon im jungen Alter vermittelt, indem sie mit ihnen und um sie herum gesprochen wird.

In Bibliothek der Schule finden sich auch Literaturklassiker in sorbischer Übersetzung.

In Bibliothek der Schule finden sich auch Literaturklassiker in sorbischer Übersetzung.

Laut Geis hinterfragen vor allem die älteren Schülerinnen und Schüler den Nutzen der Sprache. „Das ist eigentlich die größte Schwierigkeit, wenn es darum geht, die Sprache wiederzubeleben”, räumt der Lehrer ein. Ob man mit Sorbisch Geld verdienen kann? Ob einem die Sprache im Urlaub hilft? Fragen wie diese kann Geis nicht beantworten. Auch ihm selbst fehlen im Alltag Gelegenheiten, die niedersorbische Sprache zu sprechen. Das schlage sich auch in seinen eigenen Sprachfähigkeiten nieder, sagt Geis. 

Dass Niedersorbisch-Lehrer oft selbst eine zu geringe Sprachkompetenz haben, beklagt auch Sorabistik-Professor Till Vogt. An seinem Institut werden jährlich etwa fünf bis sieben neue Sorbischlehrer ausgebildet, im letzten Jahr zwei davon für Niedersorbisch. „Als Sorbischlehrer hat man einfach nicht so die Möglichkeit, sich der Sprache auszusetzen, wie das zum Beispiel ein Englischlehrer kann”, erklärt er. Dazu komme der wachsende Druck, die Sprache am Leben zu erhalten, auch weil es gerade für das Niedersorbische immer weniger Lehrer gibt – insbesondere in den Grundschulen. Vogt befürchtet, dass das Fach dort in den kommenden Jahren einfach wegfallen wird.

Für Tobias Geis ist klar, dass Schulen allein die niedersorbische Sprache nicht am Leben halten können. Die Sprache wieder in die breite Gesellschaft zu tragen sei ein Kraftakt: „Dabei müssen alle mit anpacken."

Tobias Geis unterrichtet am Niedersorbischen Gymnasium Cottbus

Tobias Geis unterrichtet am Niedersorbischen Gymnasium Cottbus

Nach Kita und Grundschule sollen die Kinder ihre Kenntnisse an weiterführenden Schulen ausbauen. Am Niedersorbischen Gymnasium in Cottbus ist Sorbisch sogar Pflichtfach. Hier lernen neben Kindern mit sorbischen Wurzeln und Kindern aus Witaj-Kindergärten auch die Kinder Niedersorbisch als Fremdsprache, die vorher noch nie mit der Sprache in Kontakt gekommen sind

Das sei nicht überall so, sagt Mercin Krawc. Gemeinsam mit Hagen Domaška engagiert sich der Energieingenieur im “Serbski Sejm”. So heißt das Parlament der Sorben, das unter anderem für die Anerkennung als indigenes Volk kämpft. Mit diesem Status wären weitreichende Rechte der Selbstorganisation verbunden, auch im Bereich der Bildung. Ein wichtiger Schritt, meint Krawc, denn so könnte der Sorbischunterricht für Kinder attraktiver gestaltet werden. Bisher habe die Sprache an vielen Schulen keinen anrechenbaren Nutzen. Wer auf Sorbisch sein Abitur machen wolle, müsse vier Sprachen beherrschen: neben dem Deutschen und dem Sorbischen auch Englisch und eine zweite Fremdsprache. „Wenn es überall eine Anerkennung gäbe, würden viel mehr Schulen Sorbisch anbieten”, vermutet Krawc. Es bleibt die Frage: Was bringt das, wenn Niedersorbisch im Alltag nicht mehr gesprochen wird?

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Mehr als Folklore

Abseits der Schulbänke wird die Sprache nicht nur gelernt, sondern vor allem gelebt. „Das Sorbische besteht nicht nur aus Folklore. Es gibt auch ein großes, buntes und reichhaltiges Leben in sorbischer Sprache und moderner Kultur”, sagt Lubina Hajduk. Als Autorin ist Hajduk Teil dieser zeitgenössischen Kultur.  Sie wuchs in einer sorbischsprachigen Familie auf und fing schon früh an zu schreiben – auf Sorbisch. „Für mich war das gar keine Frage. Da kamen zwei Sachen zusammen – dass die Sorben Bedarf haben an jungen Texten und dass ich Lust hatte, zu schreiben”, sagt Hajduk lachend.

Ob Krimis, Fantasyromane, Hörspiele oder Jugendbücher –  ihre Werke richten sich überwiegend an ein jüngeres Publikum. Hajduks Beitrag zum Fortbestand der sorbischen Sprache blieb nicht unbemerkt: Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet und erhielt mit dem Ćišinski-Förderpreis 2017 eine der höchsten Ehrungen des sorbischen Volks. 

Auch das Ensemble des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters in Bautzen wurde bereits mit dem Ćišinski-Preis für seine Verdienste um das Sorbische ausgezeichnet. Mit dem Zusammenschluss des Sorbischen Volkstheaters und des Bautzner Stadttheaters entstand eine besondere Kulturstätte. „Wir sind einzigartig, weil wir die einzige Minderheit sind, die sich in einem Haus mit einer Mehrheitskultur verbunden hat,” schwärmt Madleńka Šołćic. Wenn die Dramaturgin über ihr Volk spricht, spielt ein stolzes Lächeln um ihre Lippen.

Eine Szene aus der sorbischen Familiengeschichte "Wopusceny Dom"/"Das leere Haus" von Carla Niewöhner, aufgeführt am Volkstheater Bautzen

Eine Szene aus der sorbischen Familiengeschichte "Wopusceny Dom"/"Das leere Haus" von Carla Niewöhner, aufgeführt am Volkstheater Bautzen

Laut Šołćic steige die Zahl der Besucher, seit zu einigen Produktionen auch Simultanübersetzungen ins Deutsche angeboten werden. Sie ist überzeugt, dass das Theater eine besondere Rolle für den Erhalt der sorbischen Sprache spielt: „Kinder haben die sorbische Sprache in der Schule, Muttersprachler lernen sie im Elternhaus und dann wird Sorbisch noch in der Kirche und vielleicht in der Dorfgemeinschaft gesprochen. Das Theater aber ist der einzige sorbischsprachige Raum, der Fiktion und Fantasie bieten kann.” 

Schriftstellerin Lubina Hajduk bemängelt vor allem das Fehlen von Filmen und Videos auf Sorbisch, gerade aufgrund der zunehmenden Bedeutung von Netflix und anderen Streamingdiensten. Prognosen für die Zukunft der Sprache möchte sie nicht abgeben –  aber angesichts der Kreativität der Jugend ist sie positiv gestimmt. „Ich bin immer wieder erstaunt, was für tolle neue Ideen kommen."

Tinder auf Sorbisch

Der Instagram-Account „SerbskeMemesOriginal“ ist eine dieser Ideen. Měrko Radyserb betreibt ihn zusammen mit drei Freunden: „Einige von uns sind viel auf Seiten wie 9Gag unterwegs und so ist irgendwann die Idee entstanden, das mit sorbischen Themen zu verknüpfen“, erzählt Radyserb, der eigentlich anders heißt. Die Gruppe – alle sind Anfang 20 – möchte anonym bleiben, auch aus ihrem Umfeld wissen nicht viele von ihrem Hobby. Es gebe durchaus auch negative Reaktionen, so Radyserb. Etwa auf Memes, die sich über Organisationen lustig machen, die sich zwar für die sorbische Sprache einsetzen, obwohl sie untereinander Deutsch sprechen. Andere Themen der Memes sind etwa sorbische Tinderprofile. „Wir wollen zeigen, dass Sorben eben nicht irgendwelche Leute sind, die in Zelten wohnen und mit Wassereimern vor Brunnen stehen.”

Obwohl die Freunde sorbischsprachig aufwuchsen und die Sprache untereinander sprechen, sind die manchmal schnell gepostet Memes nicht ohne sprachliche Fehler. „Niemand von uns studiert Sorabistik, wir sprechen eben umgangssprachlich“, sagt Radyserb. Dafür wird die Gruppe immer wieder kritisiert. Sie wollen ihre Sätze deshalb in Zukunft sprachlich häufiger überprüfen. Das geht mit dem Online-Wörterbuch „soblex“. Radyserb blickt optimistisch in die Zukunft: „Das Gerede, dass die Sorben aussterben, gab es auch schon vor 100, vor 50 und vor 30 Jahren“.

"Letztendlich liegt es an unserer Generation, was wir daraus machen."
Jurij Hantuš, Skupina Astronawt

Impressum

Redaktion (Text, Fotos, Videos): Till Oppermann, Robert Putzbach, Marie Ries, Elisabeth Winkler und Teresa Wolny

Redaktionelle Leitung: Cornelia Wolf

Foto und Video Credits:
Skupina Astronawt
Volkstheater Bautzen
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Robert Putzbach, Marie Ries, Elisabeth Winkler und Teresa Wolny

Verantwortlich i.S.d.P.: Till Oppermann

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Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft
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