Träger des Wissens
Das Vermächtnis der Menschheit soll für die Ewigkeit gespeichert werden. Doch wie archiviert man, was nicht archiviert werden kann?

Am 20. August 1977 startet die Voyager 2 Raumsonde mit einer besonderen Fracht ins All: Sie transportiert die Voyager Golden Records - eine Kupferplatte mit Musik, Fotos von Supermarkeinkäufen und Walgesängen. Auch an Hinweise zum richtigen Auslesen der Daten wurde gedacht. Der Grund: Das Vermächtnis der Erde soll Aliens erklärt werden, auch wenn die Menschheit vielleicht längst nicht mehr existiert.
„Eines Tages wird die Voyager Platte vielleicht der einzige Beweis für die Menschlichkeit sein”, bemerkte Simonetta Di Pippo, Vorsitzende des UN-Office for Outer Space Affairs damals. Statt einem Zeichen für fremde Galaxien ist die beständige Kupferplatte vielmehr ein Indiz dafür, was der Menschheit wichtig ist. Die Archive dieser Welt stellen sich seit jeher die Frage, wie das Vermächtnis der Erde für die Nachwelt archiviert werden kann. Welches Material hält am längsten? Welches Wissen soll transportiert werden? Was geht verloren?
Eine Spurensuche durch Kunst- und Musikarchive, Cloudspeicher und Datenmüll.

"Bei der Digitalisierung von Kunst geht die Aura verloren"


© Tima Miroshnichenko von Pexels
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© Sunsetoned von Pexels
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© 王將將 von Pexels
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Unsere Spurensuche beginnt im Kunstmuseum. Das berühmteste unter ihnen - der Pariser Louvre - gab im Oktober 2020 bekannt: Sie wollen ihre komplette Sammlung digitalisieren. Bilder stehen nun kostenfrei zur Verfügung. Das macht die Kunst zugänglicher, aber bleibt sie das Gleiche?
Ein Schekel aus dem Nachlass von Arnold Zweig ist das älteste Objekt im Archiv der Berliner Akademie der Künste (AdK), erzählt Werner Heegewaldt, Direktor der AdK im Interview. Die Silbermünze wird wegen ihrer Beschaffenheit noch hunderte Jahre für die Nachwelt verfügbar sein. Metall ist ein haltbarer Wissensspeicher, deshalb wurde für die Voyager-Platten auch Kupfer benutzt. Anders ist das bei Materialien, die vom Zerfall bedroht sind. Hier wird gegen die Zeit archiviert.
Die Lösung für Bilder, Schriftstücke und andere Dinge lautet oft: Digitalisierung. Doch dieses Abbild zeige nur einen Teil des eigentlichen Objekts. Das Sinnliche an der Kunst kann nicht festgehalten werden. Das sagt zumindest Werner Heegewaldt:
„Die Anmutungen des Papiers, der Schrift, den Geruch, das sind alles Dinge, die Sie im Originalen zwar fühlen, riechen, merken können, die aber im Digitalen nicht transportiert werden können, so gut die Aufnahmen auch sind.“
Das Archivieren von Objekten liefert Zeugnisse künstlerischer Arbeit für die folgenden Generationen. Sie kann helfen, die Zeit und Gesellschaft zu verstehen, in der sie entstanden ist. Archive für Kunst müssen sich den aktuellen Herausforderungen stellen. Dazu gehört auch, die Defizite des Digitalen anzuerkennen. Online komme es zu einer Wahrnehmungsverschiebung, sagt Heegewaldt:
„Die Überraschung ist oft groß, wenn Menschen Kunstwerke digital sehen und begeistert sind, dass sie reinzoomen können und dann stehen sie vor dem Original: Ach, ich hätte mir das viel größer vorgestellt.“
Für manches Archivmaterial ist eine Digitalisierung aber nicht nur möglich, sondern auch notwendig. In der AdK war eine Filmsammlung aus der Asien-Reise der Schriftstellerin Vicki Baum aus den 1930er Jahren so weit zersetzt, dass sie unbrauchbar wurde. Durch einen komplizierten chemischen Prozess konnten die Filmrollen aber zum Teil digitalisiert werden. Der digitale Ersatz ist seltenes Zeugnis einer westlichen Reisenden Anfang des 20. Jahrhunderts und ein Bild auf Land und Leute. Das Originalmaterial nach der chemischen Behandlung: zerstört.
Moderne Archive können durch digitale Kunst zugänglicher sein. In der kürzlich veröffentlichten Sammlung des Louvre können alle Menschen über 480.000 Exponate kostenlos anschauen. Selbst die Mona Lisa ist online einsehbar. Das Gute: Niemand muss mehrere Stunden anstehen, um das Stück aus der Nähe zu betrachten.
Je losgelöster vom Objekt die Kunst ist, desto schwieriger wird es, sie zu archivieren. Bei Performancekunst geht steht der Moment im Vordergrund. Kann ein Augenblick archiviert werden?
"Die Archivierung von Performancekunst hat irgendwann eine Grenze"

“Bildende Kunst wird stark von einem Werkbegriff dominiert, der objekthaft ist, der auf das originäre Kunstobjekt zurückgeht. Bei der Performancekunst kommt eben der Prozess ins Spiel, der diesen Werkbegriff aufbricht.”
Das sagt Marlies Surtmann, vom Zentrum für Museale Sammlungswissenschaften an der Donau-Universität Krems. Wie archiviert man aber Vergängliches, einen Prozess? Wie archiviert man, was sich eigentlich nicht archivieren lässt? Marlies Surtmann will mit ihrem Dissertationsprojekt “Archiv für Performancekunst?” zwischen Performance Studies, Kunst- und Sammlungswissenschaften einen Diskurs schaffen, um diese Fragen zu beantworten. Durch Grundlagenforschung sollen Archivierungsmethoden erarbeitet werden, die der Performancekunst gerecht werden. Dabei will sie, selbst Künstlerin, den künstlerisch-performativen Zugang im Blick behalten.
Da die Performancekunst keine singulären Kunstwerke produziert, ist das Archivieren laut Surtmann besonders wichtig. Das Archiv sorge dafür, dass man weiß, dass es die Performance überhaupt gegeben hat. Klassischerweise wird für das Archivieren von Performances mit Video gearbeitet. Dadurch bekomme man sehr viele Details, oft werde das Publikum mitgefilmt und so auch dessen Reaktionen, so Surtmann. Fotoserien, Ausstellungen und Interviews stehen an zweiter Stelle. Doch auch Audioaufnahmen werden für das Archivieren von Performances genutzt, besonders, wenn diese eine große sprachliche Komponente haben. Ein neueres Tool hierfür ist Virtual Reality (VR). VR-Brillen und 360°-Videos werden von Performance-Künstler:innen immer häufiger genutzt und sind für Surtmann ein geeignetes Tool, Performances zu verstehen, die man selbst nicht live gesehen hat. Man müsse allerdings aufpassen, dass die technische Spielerei nicht zu viel Raum einnehme.
„Die Archivierung von Performancekunst hat irgendwann eine Grenze,” meint Surtmann. Diese Grenze ist die Tradierung des Körpers, der Kern einer jeden Performance. Im gemeinsamen künstlerischen Forschungsprojekt “Performatorium” mit Olivia Jaques und einer Workshopreihe im Kunstraum Niederösterreich, versucht sie, gesammelten Archivmaterialien den Körper wieder hinzuzufügen:
“Wir verwenden eine selbst entwickelte forensische Untersuchungsmethode, bei der es darum geht, eine vergangene Performance nachzuvollziehen, die die Workshop-Teilnehmer:innen meist nicht gesehen haben."
Zu Beginn steht die Untersuchung der Dokumente, zum Beispiel Fotos, Videos oder Texte. „Wir arbeiten dort, wo die Performance auch passiert ist, und dann können Abläufe in den Raum übertragen, nachgestellt und nachvollzogen werden", so Surtmann. Die Teilnehmenden begeben sich in die Rolle der Performer:in oder des Publikums. Diese Methode der Archivierung von Performancekunst nennt man Reenactment.
Performative und vergängliche Kunst gibt es schon seit der Renaissance, lange bevor der erste Heimcomputer auf den Markt kam, sagt die Kulturhistorikerin Theresia Hauenfels, vom Zentrum für Museale Sammlungswissenschaften an der Donau-Universität Krems. Schon die Krönung der habsburgischen Herrscher zu Königen und Kaisern des Heiligen Römischen Reichs seien rituelle Akte gewesen und letztlich auch eine Art Performance. Und diese Festakte sind für die Nachwelt teilweise erhalten worden:
"Zum Beispiel gibt es vom Festumzug von Joseph II. anlässlich der Königskrönung in Frankfurt einen Augenzeugenbericht von Goethe, der unglaublich witzig schildert, wie der junge Habsburger im übergroßen Ornat quasi als Gespenst daherkommt."
Berichte oder Zeichnungen von solchen Festakten könnten laut Theresia Hauenfels als frühe Performance-Dokumentationen gesehen werden. Viele Performances werden heute digital konzipiert und aufgeführt, besonders in Zeiten der Pandemie. So ist auch ihre Dokumentation häufig digital. Für Marlies Surtmann steht die Frage im Mittelpunkt, wie digitale Archive fortgeführt werden können:
“Das ist das Hauptthema am Sammeln, dass man quasi für die Ewigkeit sammelt. Egal ob im Archiv oder in der musealen Sammlung.”
Doch Digitales kann immer nur für die nächsten Jahre gesichert werden, so Surtmann. Genau wie Werner Heegewaldt ist auch sie überzeugt: Papierakten sind das beständigste Archiv.

© Performatorium 2018, Workshopreihe @Kunstraum Niederoesterreich, Wien
© Performatorium 2018, Workshopreihe @Kunstraum Niederoesterreich, Wien

© Performatorium 2017, Workshopreihe @Kunstraum Niederoesterreich, Wien
© Performatorium 2017, Workshopreihe @Kunstraum Niederoesterreich, Wien

© Performatorium 2018, Workshop @Kunstraum Niederoesterreich, Wien
© Performatorium 2018, Workshop @Kunstraum Niederoesterreich, Wien

© Performatorium 2019, Workshop @Spacelab culture_lab, Wien
© Performatorium 2019, Workshop @Spacelab culture_lab, Wien

© Performatorium 2020, Workshop @Im_flieger, Wien
© Performatorium 2020, Workshop @Im_flieger, Wien

CC BY PANCH, Foto: Markus Goessi, Performative Übung: Performatorium (Olivia Jaques und Marlies Surtmann) @Archive des Ephemeren, Bern
CC BY PANCH, Foto: Markus Goessi, Performative Übung: Performatorium (Olivia Jaques und Marlies Surtmann) @Archive des Ephemeren, Bern
"Unser Ziel ist es, die Musik wieder aufleben zu lassen"


© Ekrulila von Pexels
© Ekrulila von Pexels

© Jörg Holzmann, Musikinstrumentenmuseum der Universität Leipzig
© Jörg Holzmann, Musikinstrumentenmuseum der Universität Leipzig

© Markus Brosig, Musikinstrumentenmuseum der Universität Leipzig
© Markus Brosig, Musikinstrumentenmuseum der Universität Leipzig
Welch ein Aufwand das Digitalisieren von Archivmaterial oft ist, besonders wenn man für die Ewigkeit sammelt, ist im Musikinstrumentenmuseum an der Universität Leipzig zu beobachten: gut 3400 Notenrollen wurden dort im Rahmen des Projekts “TASTEN” systematisch digitalisiert, gescannt und gereinigt, um sie möglichst lange vor dem Zerfall zu bewahren.
Die Rollen stammen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie des 20. Jahrhunderts, als Leipzig die führende Stadt für der Herstellung dieser Musikträger war. Bei den Notenrollen handelt es sich um lange Papierbahnen, in die kleine Löcher gestanzt wurden. Vor Schallplatten, Kassetten oder CDs konnten so verschiedene Tasteninstrumente ferngesteuert und die entstandenen Aufnahmen physisch verbreitet werden. „Die Tasten wurden mechanisch bewegt, sodass man den Pianisten ersetzten konnte“, erklärt Prof. Dr. Scheuermann, einer der Projektleiter von „TASTEN“. Die Besonderheit: Die Musik auf den Rollen wurde von berühmten Komponisten und Interpreten, etwa Franz Liszt, eingespielt und auf das Papier gebannt.
„Unser Ziel ist es, die Musik von damals wieder aufleben zu lassen“, meint Scheuermann.
„Wir haben einerseits die Töne der einzelnen Instrumente aufgenommen, andererseits wurden die Notenrollen per Bildbearbeitung ausgewertet.“
Entstanden ist so ein Interface, das in der Lage ist, die Notenrollen von damals zu lesen und mit den authentischen Klängen vergangener Zeiten abzuspielen.
Durch das Projekt wird nicht nur eine Vielzahl verloren geglaubter Musikstücke wieder hörbar gemacht. Laut Scheuermann ist durch das Projekt eine Forschung „auf einer ganz anderen Basis“ möglich. Dadurch, dass die Notenrollen eine exakte Repräsentation der gespielten Töne erlauben, müssen sich Musikwissenschaftler:innen bei ihrer Arbeit nicht mehr nur auf zeitgenössische Aufnahmen stützen, die mit der Qualität heutiger, hochauflösender Aufnahmen wenig gemeinsam haben.
Das Forschungsprojekt fand im Oktober 2020 seinen Abschluss. Das Anfang des Jahres initiierte Folgeprojekt „DISKOS“ baut jedoch nahtlos auf dem Vorhaben auf. „Jetzt geht es darum, die verbliebenen Notenrollen zu analysieren und den gesamten Bestand des Museums zu digitalisieren“, meint Scheuermann. In naher Zukunft soll das gesamte Archiv digital verfügbar sein. Scheuermann schmunzelt:
„Die Nachwelt kann 100 Jahre später noch herausfinden, wenn sich jemand damals bei den Aufnahmen verspielt hat.“
Die Archivierung von Kunst und Musik, gleich ob objekthaft oder vergänglich, hat eines gemeinsam: Sie benötigt Orte als Speicher. Der Bestand der Deutschen Nationalbibliothek wächst jedes Jahr um rund sieben Kilometer Regalböden und 133 Terabyte Speicherplatz. Das ist so viel wie rund 200 Festplatten. Privat wird mittlerweile viel online gespeichert. Wie lange überlebt Wissen in der Cloud?
Täglich gehen Inhalte verloren, Webseiten werden gelöscht, der Betrieb von Servern wird eingestellt.

Der größte Teil dieser enormen Menge ist flüchtig und wird nicht dauerhaft gespeichert: Telefongespräche, Videostreams, oder komplexe Berechnungsdaten in der Forschung.
Der beständige Teil allerdings, besonders das Internet, dient nicht nur als Speicher digitaler Abbilder, sondern ist selbst immaterielles Kulturerbe der Menschheit. Ein Gut, das ebenso dynamisch wie kurzlebig ist: täglich gehen Inhalte verloren, Webseiten werden gelöscht, der Betrieb von Servern eingestellt. Und damit schwindet jedes Mal ein Teil unserer Gegenwart.
Die sogenannte „Wayback Machine“ des Internet Archive, einer Non-Profit-Organisation, versucht dem entgegenzuwirken: Mithilfe dieses Online-Tools lassen sich Momentaufnahmen des Internets erzeugen, indem eine exakte Kopie einer Website erstellt wird. Diese bleibt dann über die Server des Internet Archives aufrufbar – auch, wenn das Original längst nicht mehr existiert, oder inzwischen vollkommen anders aussieht.
Damit steht die Wayback Machine im Kontrast zu klassischen Archivierungsansätzen von Büchern oder Kunstwerken:
Alle können teilnehmen. Um eine Kopie zu speichern, genügt es, eine Webadresse in die Wayback Machine einzugeben.
Anstatt in Restaurationswerkstätten und mit technischem Fachwissen, wie beispielsweise bei der Archivierung von Gemälden, findet die Archivierung hier in der Öffentlichkeit statt. Anders als bei den Voyager Records, für die ein Komitee die Inhalte ausgewählt hatte, wird hier die Entscheidung darüber, was für die Nachwelt aufbewahrt wird, demokratisiert. Und anstatt für alle Ewigkeit auf eine Kupferplatte gebannt zu sein, ist die Archivierung selbst dynamisch: mehrere Kopien können im zeitlichen Verlauf angelegt werden, was es erlaubt, Änderungen, Ergänzungen, oder Löschprozesse später nachzuvollziehen. Eine enorm wichtige Wissensquelle für die Forschung und ein wirkungsvolles Mittel gegen Zensur.
Digitale Daten verschwinden allerdings nicht nur durch absichtliches Löschen – sie können auch auf „natürliche“ Weise verloren gehen. Die „Cloud“ hat ebenso wie analogen Dinge mit dem Verfall zu kämpfen. Denn die Festplatten, auf welchen die weltweit schier unüberschaubare und ständig wachsende Menge an Daten festgehalten wird, sind selbst physische Objekte.
Im Falle des Internet Archive werden Festplatten daher im Schnitt alle drei bis fünf Jahre ausgetauscht, da sie dann ihre maximale Lebensdauer erreicht haben.
Jedes Mal, wenn die gespeicherten Inhalte auf einem Datenträger gelesen werden, kann dieser Schaden nehmen. Zwar haben Langzeitmedien wie Magnetbänder, Mikrofilm, oder Festplatten theoretisch eine Lebensdauer von über hundert Jahren – in der Praxis sind sie aber oft schon nach ein oder zwei Jahrzehnten durch Abnutzung oder schlechte Lagerbedingungen unbrauchbar.

© Jason Scott, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons
© Jason Scott, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons

Die Lösung: Replikation. Daten werden an mehreren Orten dupliziert gespeichert, sodass bei Ausfällen immer eine Kopie vorhanden ist. Doch auch dieses Konzept hat Grenzen: oft wird aus Kostengründen auf solche Sicherheitskopien verzichtet. Als im März 2021 in einem Rechenzentrum des Anbieters OVH (eines der größten in Europa) ein Großbrand ausbricht, fallen dem circa 12.000 Server zum Opfer. Das Resultat:
Über drei Millionen Websites waren kurzfristig offline und erhebliche Datenmengen sind für immer verschwunden.
Deshalb wird ein Buch trotzdem noch analog archiviert. Es ist die authentische und ursprüngliche Version, die als Referenz verwendet werden kann. Wenn die digitale Version beschädigt wird, oder ihre Authentizität in Frage gestellt ist, kann das Original untersucht und notfalls erneut digitalisiert werden.
Doch was, wenn es sich um “digital born Objects” handelt, also Objekte, von denen nur eine digitale Version existiert? PDFs, Software und digitale Kunst stellen die Langzeitarchivierung vor neue Herausforderungen.
"Wir arbeiten mit einem Konzept, das genau obsolet sein wird, wie der Inhalt, den wir erhalten wollen"

Die Animationskünstlerin Nina Paley durchkämmte Ebay-Anzeigen nach alten Mac Computern, um kein neues Animationsprogramm erlernen zu müssen. Die Software Macromedia Flash, mit der sie ihre ersten Filme animiert hat, liegt auf dem digitalen Friedhof.
Flash zu erlernen, dauerte nur ein Wochenende. Großen Erfolg feierte sie mit ihrem Animationsfilm "Sita sings the blues". Gedanken über die Lebensdauer ihrer digitalen Infrastruktur hatte sie sich bis dahin nicht gemacht. Das änderte sich im Jahr 2005. Flash wurde von Adobe aufgekauft, die Funktionalität wird von Adobe eingeschränkt.
Programme und Technologien haben einen kurzen Lebenszyklus, mit neueren Versionen oder Updates sind sie nicht kompatibel. Damit stehen viele Künstler:innen und Archive vor einem Problem: Was, wenn die Zeit, die sie für die Fertigstellung ihres Projekts benötigen länger ist, als die Zeit, die das Betriebssystem oder die Software ihres Computers unterstützt wird? Können digital erstellte Objekte den technologischen Fortschritt überleben?

„Wir versuchen komplexe Systeme zu erhalten, die keine analoge Repräsentation haben.“
Das erklärt Klaus Rechert, Postdoktorand am Lehrstuhl für Kommunikationssysteme des Instituts für Informatik in Freiburg. Die digitale Langzeitarchivierung stützt sich auf zwei Konzepte: Migration und Emulation.
Migration meint das Übertragen von Daten aus einem alten System in ein neues. Zum Beispiel, wenn eine Word-Datei in ein PDF konvertiert wird. Emulation dagegen beschreibt die Erstellung von neuen Programmen, um alte Programme auszuführen. „In der Erhaltungsplanung ist man bisher davon ausgegangen, dass man alles migrieren kann.”, erzählt Rechert. Doch die Migration hat ihre Grenzen. Software zum Beispiel macht Migration fast unmöglich: Ein PDF hat einen klaren Dokumentanfang und ein Ende. Ob es vollständig ist, kann einfach festgestellt werden. Bei Software ist das ist das mittlerweile nicht mehr so. Es gibt hybride Produkte, die aus miteinander kombinierten Offline- und Online-Komponenten bestehen.

„Stück für Stück verschwindet die Sichtweise, dass ich eine Software tatsächlich besitze.“
Ob ein altes Dokument zum Beispiel auf Google Drive geöffnet werden kann, hängt davon ab, ob Google das alte Format weiter unterstützen will. Wir sind darauf angewiesen, dass die Software tatsächlich durch den Hersteller am Leben bleibt und dass dessen Cloud weiter funktioniert. Anschaulich zeigt das Projekt „Google Graveyard“, ein Protokoll über eingestellte Google-Dienste, -Geräte und -Apps wie Google+ oder Google Hangouts.
Emulation ist ein Konzept, das genauso obsolet sein wird, wie die Inhalte, die es erhalten soll. Denn: Auch Emulatoren sind an Hardwarezyklen gebunden. Die sind wiederum an die heutige Technologie gekoppelt. Sie sind genauso zum Scheitern verurteilt wie alle anderen digital geborenen Objekte auch. Rechert nennt das:
„Langzeitarchivierung in Anführungszeichen.”
Auch implizites Wissen von heute, zum Beispiel der Rechtsklick, könnte in wenigen Jahren schon verloren sein: Der Touchscreen swiped den Mausklick auf den digitalen Friedhof.

Die Künstlerin Paley hat mittlerweile eine neue Software gelernt. Statt zwei Tagen hat sie dafür zwei Jahre gebraucht. Und wenn diese bald nicht mehr funktioniert? „Ich würde aufhören zu animieren“, sagt sie schulterzuckend. Die optimale Lösung wäre für sie eine Open Source Software. Aber die Praktikabilität der aktuellen Möglichkeiten hinkt hinter den kommerziellen Programmen hinterher.
Wie archiviert man „Digital Born Objects”? Für Paley eindeutig: „Ich habe es überall bereitgestellt, und es so zur free culture gemacht.” Mithilfe einer freien Nutzungslizenz, kann ihr Projekt problemlos von Plattform zu Plattform übertragen werden konnte. Bisher geht die Strategie auf: Sitas Blues klingt heute noch durch das World Wide Web.
Impressum
Redaktion: Connor Endt, Lukas Gienapp, Alexandra Ketterer, Ann-Kathrin Leclère und Marie Zinkann
Verantwortlich: Marie Zinkann
Universität Leipzig | Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft Post IPF 165151 | Ritterstraße 24 | 04109 Leipzig